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Zur Lage des tertiären Bildungssektors

Offener Brief an Johannes Hahn zur Lage des tertiären Bildungssektors, 16. April 2008
Beitrag von Gert Bachmann zur Novellierung des UG 2002

Sehr geehrter Herr Bundesminister!

In ihrer Broschüre zur Zukunft der Universitäten fordern Sie zur Teilnahme am Diskurs auf. In der Hoffnung, dies sei keine bloße Rhetorik, wie wir sie von Ihrer Amtsvorgängerin sattsam kannten, nehme ich diese Gelegenheit war. Ich gehe deshalb davon aus, dass neben einer Leistungsvision auch die Vision der kulturellen und bildenden Funktion staatlicher Universitäten in ihrem Programm einigen Stellungswert besitzt.

Begriffsklärung und Standortsbestimmung

Vorweg: Wir haben uns im Rahmen der UG2002-Werdung an begriffliche und administrative Unschärfen in vielen Punkten gewöhnen müssen und brauchen wieder eine begriffliche Sauberkeit, weil sonst keine zielführende Diskussion möglich ist:

1. Universitäten

Es definiert seit Gehrer/Schüssel jede Hochschule und jeder abgespaltete Teil einer Universität sich als Universität. Tatsächlich sind aber nur Universitäten mit ausreichendem Fächerkanon universell. Darum muss ein UG respektive dessen Novellen diese komplett unterschiedliche Situation berücksichtigen. Das UG2002 tut dies aber in keinster Weise (Größe der Senate, Tiefe administrativer Ebenen u.v.a.m.).

2. Herausforderungen

Wiewohl positive Begrifflichkeit prinzipiell ein guter Ansatz ist, ist eine begriffliche Bagatellisierung und Verniedlichung, ja das „Kopf in den Sand stecken“ angesichts gravierender Missstände kontraproduktiv. Probleme bleiben Probleme, wenn man sie auch noch so sehr als „Herausforderung“ schönen mag. Wer ein Problem anspricht, ist deshalb auch kein Fundamentaloppositioneller oder „Raunzer“. Solche Attribute werden ja auffälligerweise gerne für Diskutanten außerhalb des „mainstream“ vergeben.

2. Demokratie und Autonomie

Im Zuge des UG2002 Diskussionen hat es eine mehr als bedenkliche semantische und faktische Demontage der Demokratie gegeben. Von „Scherbenhaufen basisdemokratischer Experimente“, verklärtem Denken und der Zusammenführung von Entscheidungskompetenz und Verantwortung war hier die Rede. Konsequent weitergedacht, stellte solch ein Weg allerdings auch die staatliche Demokratie in Frage und bereitete den Weg zu autokratischen und totalitären Strukturen. Staatliche UNIs brauchen unbedingt neben einer Qualitätssicherung und einer operativen Ebene auch demokratische Diskussions- und Entscheidungsprozesse sowie Entwicklungstransparenz zur Motivation aller Bediensteten. Private UNIs mögen sich eher straffen betrieblichen Organisationen annähern. Das Argument, dass in einer autonomen UNI eine demokratische Kontrolle der Führungsebenen wegen der Verwendung öffentlicher Gelder nicht sinnvoll sei, ist sachlich nicht haltbar und darüber hinaus gesellschaftspolitisch gefährlich.

Wir brauchen keine Extremexperimente, weder ein „zurück zu 1968“ noch eine Spielwiese für Autokraten (egomane Professoren), sondern wir brauchen eine sinnvolle Balance, wie sie ja auch im Wechselspiel von Parlament und Regierung realisiert ist. Bedenken Sie, wie viele Politiker nicht zuletzt aufgrund der Möglichkeit, in den Studierendenvertretungen und im universitären Mittelbau demokratische Herangehensweisen zu erlernen, aus den Universitäten kamen. Die Autonomie Österreichs ist ja hoffentlich auch nicht durch die demokratische Verfassung gefährdet.

Universitäten für Studierende und Lehrende

1. Ausbildungsqualität und -dauer

Das Ziel, die durchschnittliche Studiendauer zu senken und gleichzeitig die Ausbildungsqualität zu steigern, kann ja wohl nur in den wenigen Fächern sinnvoll sein, bei denen bereits bisher ein besonderer Handlungsbedarf hinsichtlich des Auseinanderklaffens dieser Kenngrößen bestand. Im Großen und ganzen ist aber der schnellere Studienabschluss ganz sicher kein adäquates Qualitätsmerkmal einer Universitätsausbildung. Das Baccalaureat ist ja bereits insofern als diskussionswürdig erachtet worden, dass fallweise 4 Jahre als minimale Studiendauer für eine Berufsreife angebracht erkannt wurden.

In noch geringerem Maße wäre der Zusammenhang von Studiendauer und Ausbildungsqualität auf Master- und PhD- Studien anzuwenden. Ein zentrales Merkmal der Qualität tertiären Bildungssektors und der universitären Lehre ist die Flexibilität hinsichtlich einer ganz persönlichen, individuellen Zusammensetzung der Lehrinhalte, welche einzelne Studierende verinnerlichen, bevor sie sich einer Spezialisierung im Rahmen eines Magister oder Doktoratsstudiums zuwenden. Nur durch diese Individualität kann sich überdurchschnittliche Motivation und letztlich auch die oft zitierte „Excellenz“ entwickeln. Verschulung ist da der komplett falsche Weg.

Die klare Konsequenz daraus ist die Liberalisierung der Studiendauer und die Option, so viele andere Fächer zu hören, wie es der Interessenslage entspricht. Da muss ganz einfach oft erheblich mehr Zeit dafür aufgewendet werden, und dies darf kein Privileg für Kinder besser verdienender Eltern sein. Deshalb sollte auch die Studiengebühr an staatlichen Universitäten fallen. Ungarn hat ja bereits diese Konsequenz gezogen. Das Kapital einer staatlichen Universität sind nicht die Studiengelder, sondern die motivierten und interessierten Köpfe.

2. Massenuniversität versus moderne Forschungsuniversität

Auch hier gilt es ein prinzipielles Missverständnis anzusprechen: Staatliche UNIs haben die Lehre nicht als lästige Nebenaufgabe, sondern als gleichberechtigte und genauso notwendige Hauptaufgabe zu leisten. Allerdings ist es dazu nötig, wieder Lehreanreize zu schaffen. Bislang ist die ideologisch weit überhöhte „Excellenz“ jedenfalls nicht an der Lehre gemessen worden, was zu einer zunehmenden Distanzierung von dieser Kernaufgabe und auch zu einer Unterfinanzierung der Lehre generell führte. Den Schwerpunkt vermehrt in Richtung Forschung zu legen, ist für staatliche UNIs fragwürdig. Dazu sind Forschungsinstitutionen oder Privatuniversitäten eher in der Lage.

Freuen wir uns doch über ein großes Interesse am Studienstandort Österreich, und bauen wir das Anbot und die Betreuung adäquat aus. Warum bejammern wir den Ansturm von „Numerus Clausus Flüchtlingen„ und richten Zugangsbarrieren auf? Hier hat das Wort Herausforderung tatsächlich seine Berechtigung: je mehr gut betreute Studierende, desto mehr „exzellente“ AbsolventInnen werden wir haben. Sorgen wir dafür. Auch Personen, welche nicht „schnell und effizient abschließen“, sondern allenfalls im Zuge eines „Jobout“ die Universität verlassen, sollten nicht als „dropouts“ verunglimpft werden, denn auch sie sind ein Gewinn für die Gesellschaft, da sie sich an der UNI gebildet haben und zu diskursfähigen, mündigen Mitmenschen entwickeln konnten.

Der Ansatz, mehr „qualitativ hochwertige Studierende“ früher herauszusieben und die „Spreu“ möglichst früh loszuwerden, liegt im diametralen Gegensatz zum humboldschen europäischen Bildungsideal und züchtete kompetitive Soziopathen heran.

Auch hier gilt: Exklusive, elitäre Ansätze mögen auf Privatuniversitäten getestet werden, aber nicht zu Lasten der nicht nur vermeintlich, sondern tatsächlich kümmerlich dotierten staatlichen Universitäten Österreichs!

Universitäten für Unternehmen und für die Gesellschaft

In der generellen Diskussion werden staatliche, kulturelle sowie industrielle Interessen unzulässig vermengt. In vielen Ländern, auf die sich die gängigen Vergleiche beziehen, gibt es nicht nur staatliche Universitäten, sondern eben auch Forschungsinstitution oder Privatuniversitäten und private Forschungsinstitutionen.

Nicht so in Österreich. Hierzulande mehren sich indessen die Zurufe, die staatlichen UNIs mögen die Wirtschaft und angewandte Forschung servicieren. Dies ist ein grundfalscher Ansatz, wenn daneben die Grundlagenforschung und die Lehre unter Druck geraten! Vielmehr war und ist die zweckfreie Grundlagenforschung und ihre freie Lehre die Wiege innovativer Ideen und kultureller Stabilität, auf denen erst später oder eben an spezialisierten Institutionen tiefer gehende oder angewandte Forschung aufbauen kann. Breite gegen Spezialisierung zu polarisieren zeugt von tiefem Unverstand Erkenntnis gewinnender Prozesse und kultureller Entwicklungen. Die Industrie sollte vermehrt Forschungsprojekte finanzieren und private Universitäten gründen, wie es ja auch in anderen Ländern selbstverständlich ist. Dort möge dann die Industriellenvereinigung ihre Präferenzen einbringen, anstatt die staatlichen UNIs als kostenlose Forschungsabteilungen missbrauchen zu wollen und die Freiheit der Lehre und ihrer Forschung sowie auch ihre kollegialen Strukturen zu beeinflussen. Herr Raidl, Sie sind gemeint!

Ungewollte Überschneidungen gibt es jedenfalls in der Wirtschaftstheorie, welche offenbar als Maß aller Dinge auch an der Universität Einzug hielt, nicht. Dort wird eher von gesunder Konkurrenz gesprochen. Warum dann diese nicht auch im Bildungssektor und noch vielmehr im Forschungssektor zulassen? Noch dazu dann, wenn Mainstream-Forschung Basisforschung und Lehre aufgrund übersteigerten Konkurrenzdenkens, welches nicht zuletzt durch die Situation der letzten Jahre gefördert wurde, gefährdet.

Zuletzt: Absicht, Glaubhaftigkeit und Geld

Wenn nicht trotz Steuerreform, Klimaschutz und Apfelkrise endlich mehr Geld in die Hand genommen wird, ist jede weitere Diskussion zwecklos. Insbesondere wird ein Gutteil der sogenannten Erhöhungen des Bildungsbudgets über die Hintertür der Mieten wieder eingezogen. Leistung wird gefordert, aber nicht finanziert. Die Forschung kann mit Drittmitteln kompensieren, die Lehre aber nicht. Ohne erheblich mehr unbefristete Stellen und eine erhöhte Nettodotation wird es da nicht weiter gehen. Dies ist auch hinsichtlich der Diskriminierung der Frauen an der Universität zu bedenken. Sprungbretter für junge Menschen sind eine gute Sache, aber doch nicht auf Kosten des Kernpersonales!

Gerade jetzt, wo die UNI Wien nur 10% ihrer „auslaufenden“ Leistungsträgerinnen aus dem Sektor der Säule 2 AssistentInnen und PreisträgerInnen entfristen kann, ist die Lage bestürzender denn je. Mit aller Deutlichkeit: das Höllinger´sche Übergangsdienstrecht, die nicht nur vermeintliche Unterfinanzierung der Universitäten und die Aufschiebung des Kollektivvertrages haben uns einen „drainbrain“ (vor allem von Frauen!) beschert, der nur mit dem des Jahres 1938 vergleichbar ist.

„Kostenneutral“ wäre als Unwort des Jahres 2008 vorzuschlagen. Im Herzen Europas sollte eine attraktive Universität wachsen und nicht mit mehr oder weniger halbherzigen Schwerpunktsetzungen kostenneutral verkümmern.

mit besten Grüßen
Gert Bachmann
(Betriebsrat ULV, Universitätslehrer, Demokrat)


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